Angehörigenintervention

Prävalenz Pflegebelastung

Demenz mit ihrem fortschreitenden kognitiven und funktionellen Abbau und den damit verbundenen neuropsychiatrischen Symptomen stellt eine große Belastung für die Pflegenden dar. Über einen Zeitraum von 3 Jahren wurden in Australien bei 720 Patienten und ihren Betreuern in regelmäßigen Abständen Messungen zur Belastung der Betreuer, zu Kognition, Funktion und neuropsychiatrischen Symptomen durchgeführt. Die Studie ergab, dass etwa die Hälfte der Pflegenden als belastet gelten und dieser Anteil nahm im Laufe der 3 Jahre auf 57% zu, insbesondere bei denjenigen, die zu Hause ohne Dienstleistungen leben. Neuropsychiatrische Symptome, eine beeinträchtigte Funktionsfähigkeit, eine geringere Medikamenteneinnahme und fehlende Fahrtauglichkeit - sowie das weibliche Geschlecht der Pflegenden waren mit einer höheren Belastung verbunden.

 
Quelle
  • Connors, M. H., Seeher, K., Teixeira-Pinto, A., Woodward, M., Ames, D., & Brodaty, H. (2020). Dementia and caregiver burden: A three-year longitudinal study. International journal of geriatric psychiatry, 35(2), 250–258. https://doi.org/10.1002/gps.5244

Prävalenz von Angehörigenbelastung (Deutschland)

Ergebnisse der cluster-randomisierten kontrollierten Interventionsstudie DelpHi-MV zeigen, dass zwischen 71,3 und 92,3% der befragten Angehörigen eine objektive Belastung (Belastung durch Grundpflegeaufgaben, z.B. Einkaufen) empfinden. Zwischen 22,6 und 51,6 % der Stichprobe gaben eine Belastung aufgrund subjektiv wahrgenommener Bedürfniskonflikte (z.B. fehlende Wertschätzung) an. Die Beaufsichtigung und die Grundpflege wurden als weniger belastende Aufgaben empfunden, während die Unterstützung bei der Aufrechterhaltung sozialer Kontakte und erweiterte Pflegeaufgaben als am stärksten belastend wahrgenommen wurden.

 
Quelle
  • Quelle: Thyrian, J. R., Winter, P., Eichler, T., Reimann, M., Wucherer, D., Dreier, A., Michalowsky, B., Zarm, K., & Hoffmann, W. (2017). Relatives' burden of caring for people screened positive for dementia in primary care : Results of the DelpHi study. Angehörigenbelastung bei positiv auf Demenz gescreenten Menschen in der Hausarztpraxis : Ergebnisse der DelpHi-Studie. Zeitschrift fur Gerontologie und Geriatrie, 50(1), 4–13. https://doi.org/10.1007/s00391-016-1119-9
     

Gründe für Ablehnung Angehörigenentlastung:

Obwohl den meisten pflegenden Angehörigen Unterstützungsdienste zur Verfügung stehen, lehnen viele Pflegende eine Unterstützung ab. Eine deutsche Studie mit 171 pflegenden Angehörigen ergab, dass 18% der Empfehlungen abgelehnt werden. Die Ablehnungsquote hängt stark mit der Art der Empfehlung zusammen: Empfehlungen zur psychischen Gesundheit (3,6 %), zur körperlichen Gesundheit (2,5 %) und zu sozialen, rechtlichen und finanziellen Angelegenheiten (0 %), Empfehlungen zur sozialen Integration (insbesondere bei Selbsthilfegruppen) (71,7 %). Die Ablehnung der Pflegenden hing hauptsächlich mit persönlichen Faktoren der Pflegenden (z.B. unerwünscht, unnötig, keine Zeit) und in geringerem Ausmaß mit dienstleistungsbezogenen Faktoren (z.B. keine verfügbare Dienstleitung), Beziehungsfaktoren und anderen Faktoren zusammen. Die Anzahl der Ablehnungen hängt mit dem höheren funktionalen Status des Menschen mit Demenz zusammen. Wichtig ist, dass dies unabhängig vom kognitiven und depressiven Status des Menschen mit Demenz sowie von der physischen und psychischen Gesundheit der pflegenden Angehörigen von Demenzkranken ist.

 
Quelle
  • Zwingmann, I., Dreier-Wolfgramm, A., Esser, A., Wucherer, D., Thyrian, J. R., Eichler, T., Kaczynski, A., Monsees, J., Keller, A., Hertel, J., Kilimann, I., Teipel, S., Michalowsky, B., & Hoffmann, W. (2020). Why do family dementia caregivers reject caregiver support services? Analyzing types of rejection and associated health-impairments in a cluster-randomized controlled intervention trial. BMC health services research, 20(1), 121. https://doi.org/10.1186/s12913-020-4970-8

Determinanten von Pflegebelastung:

Neuropsychiatrische Symptome haben unabhängig von der Demenzdiagnose einen großen Einfluss auf die Belastung der Pflegepersonen und das Vorkommen einer Depression bei diesen. Die Auswirkungen scheinen jedoch am ehesten auf störende Verhaltensweisen, wie Unruhe, Aggression, Enthemmung, Wahnvorstellungen und Stimmungsschwankungen zurückzuführen zu sein. Störende Verhaltensweisen sind beunruhigender, weil sie zum einen die emotionale Beziehung zwischen Pflegeperson und Pflegebedürftigem beeinträchtigen und zum anderen die Schwierigkeiten in anderen Bereichen (z. B. bei der Verrichtung von Aktivitäten des täglichen Lebens) verstärken. Bei der frontotemporalen Demenz sind diese störenden Verhaltensweisen nicht nur ausgeprägter, sondern auch beunruhigender, weil der Pflegebedürftige für die Gefühle anderer nicht empfänglich ist. Bei der Lewy-Body-Demenz scheine werden zusätzlich visuelle Halluzinationen als sehr beunruhigend wahrgenommen.

 
Quelle

Einflussfaktoren auf die Pflegebelastung

Sowohl krankheitsbezogene als auch soziodemographische Faktoren haben einen Einfluss auf die Pflegebelastung. Neben der Zunahme psychologischer und verhaltensbezogener Symptome und einer Verschlechterung der Funktionsfähigkeit des Menschen mit Demenz im Alltag, wirken sich ebenso sowohl das Geschlecht des Angehörigen als auch das des Betroffenen auf die Pflegebelastung aus. Pflegende Frauen zeigen ein höheres Belastungsempfinden als Männer. Ebenso erweist sich die Stellung des Angehörigen zum Betroffenen als entscheidend. Die Belastung ist bei Kindern von Erkrankten deutlich höher als bei (Ehe-)Partner/innen. Ein weiterer Einflussfaktor, welcher zu einer stärkeren Pflegebelastung führt, ist das Zusammenleben mit dem Betroffenen im selben Haushalt.

 
Quellen:
  • Cheng S. T. (2017). Dementia Caregiver Burden: a Research Update and Critical Analysis. Current psychiatry reports, 19(9), 64. https://doi.org/10.1007/s11920-017-0818-2
  • Dietzel, N., et al., Einflussfaktoren auf die Pflegebelastung der Angehörigen von Menschen mit Demenz: der Bayerische Demenz Survey (BayDem). Gesundheitswesen, 2020. 82(01): p. 30-39.

Angehörigenentlastung I (Dementia Care Management)

Mithilfe der DelpHi-MV Studie wurde die Auswirkung des Demenzpflegemanagements (Dementia Care Management) auf die Behandlung und Pflege von Menschen mit Demenz und ihren Pflegern untersucht. An der deutschen Studie nahmen 634 Patienten teil, die über einen Zeitraum von sechs Monate von demenzspezifisch qualifizierten Pflegefachkräften in der eigenen Häuslichkeit versorgt wurden. Verglichen wurde diese Behandlung mit der normalen Routineversorgung. Das Demenzpflegemanagement besteht aus regelmäßigen Besuchen der Pflegefachpersonen, welche die unerfüllten Bedarfe der Menschen mit Demenz mithilfe einer Software erfassen und diese dann einen Versorgungsplan erstellt. Dieser individuelle Versorgungsplan wird dann über einen Zeitraum von sechs Monaten umgesetzt. Neben der Verringerung der neuropsychiatrischen Symptome und dem erhöhten Einsatz von Antidementiva, ergab sich durch das Demenzpflegemanagement ebenfalls eine geringere Belastung der Angehörigen.

 
Quelle
  • Thyrian, J. R., Hertel, J., Wucherer, D., Eichler, T., Michalowsky, B., Dreier-Wolfgramm, A., Dementia Care Management in Primary Care: A Randomized Clinical Trial. JAMA psychiatry, 74(10), 996–1004. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2017.2124

Angehörigenentlastung II via Telefon und Internet (Care Ecosystem)

Das Care Ecosystem ist ein Modell für die Versorgung von Pflegern und Menschen mit Demenz in weiten geografischen Gebieten, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem Gesundheitssystem. 780 Paare, bestehend aus einem Menschen mit Demenz und seinem Angehörigen in Kalifornien, Iowa oder Nebraska erfüllten die Zulassungskriterien und wurden in die Studie aufgenommen. Verglichen wurde das „Care Ecosystem“ mit der Routineversorgung. Das „Care Ecosystem“ umfasst die telefonische kollaborative Demenzpflege, welche von einem geschulten Pflegeteam-Navigator durchgeführt wurde, der Aufklärung, Unterstützung und Pflegekoordination mit einem Team von Demenzspezialisten (Krankenschwester, Sozialarbeiter und Apotheker) bot. Im Vergleich zur üblichen Versorgung verbesserte das „Care Ecosystem“ die Lebensqualität der Betroffenen, reduzierte die Besuche in der Notaufnahme, verringerte die Depression und die Belastung des Angehörigen.

 
Quelle
  • Possin, K. L., Merrilees, J. J., Dulaney, S., Bonasera, S. J., Chiong, W., Lee, K., Hooper, S. M., Allen, I. E., Braley, T., Bernstein, A., Rosa, T. D., Harrison, K., Begert-Hellings, H., Kornak, J., Kahn, J. G., Naasan, G., Lanata, S., Clark, A. M., Chodos, A., Gearhart, R., … Miller, B. L. (2019). Effect of Collaborative Dementia Care via Telephone and Internet on Quality of Life, Caregiver Well-being, and Health Care Use: The Care Ecosystem Randomized Clinical Trial. JAMA internal medicine, 179(12), 1658–1667. https://doi.org/10.1001/jamainternmed.2019.4101
     

Angehörigenentlastung III durch ein internetbasiertes Informations- und Qualifizierungsprogramm (RHAPSODY)

Kürzlich wurde eine internationale Pilotstudie mit einem internetbasierten Informations- und Qualifizierungsprogramm (RHAPSODY) durchgeführt, das speziell für pflegende Angehörige von Pflegebedürftigen mit früh einsetzender Demenz entwickelt wurde. Das Programm enthält separate Kapitel mit Textinformationen, erläuternden Bildern, Animationen und reflektierenden Fragen zu verschiedenen Themen, wie z. B. dem medizinischen Hintergrund von früher Demenz, dem Umgang mit herausforderndem Verhalten, dem Umgang mit veränderten Rollenmustern in der Familie, dem Zugang zu und die Verfügbarkeit von geeigneter Unterstützung und die (Wieder-)Erlangung eines Gleichgewichtsgefühls während der Pflegezeit.

Das Programm wurde als akzeptabel und alltagstauglich empfunden und die Pflegenden waren mit der Qualität der Inhalte zufrieden. Die Mehrheit würde das Programm erneut nutzen und weiterempfehlen. Die Teilnehmenden betonten die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer zentralen Plattform, die pädagogische und praktische Informationen über frühe Demenz enthält. Die Seite mit der Erklärung über die Inhalte einer frühen Demenz wurde am häufigsten aufgerufen. Die meiste Zeit wurde auf der Seite, welche Informationen über den Diagnoseprozess enthält, verbracht. Das niederländische RHAPSODY-Programm zeigte eine gute Benutzerakzeptanz, Benutzerfreundlichkeit und Benutzerzufriedenheit.

 
Quelle
  • Daemen, M., Bruinsma, J., Bakker, C., Zwaaftink, R. G., Koopmans, R., Oostijen, A., Loose, B., Verhey, F., de Vugt, M., & Peetoom, K. (2022). A cross-sectional evaluation of the Dutch RHAPSODY program: online information and support for caregivers of persons with young-onset dementia. Internet interventions, 28, 100530. https://doi.org/10.1016/j.invent.2022.100530